Die Entdeckung
Tschagguns/Vorarlberg/Österreich
Ein frommer Zauber hält mich wieder,
anbetend, staunend muss ich steh‘n;
es sinkt auf meine Augenlider
ein gold’ner Kindertraum hernieder,
ich fühl’s – ein Wunder ist gescheh‘n.
Theodor Storm
Fünfzehn Jahre später… ein Tag im Jahre 1992.
Ich plaudere mit Theo, dem Vater eines Jungen aus einer Eltern-Kind-Gruppe. Es geht um dies und das und dann, ich weiß nicht mehr, wieso, um die Alpen. Plötzlich ist er wieder da, der alte Sepp mit der harten Schale und den kräftigen Waden. Ich erzähle, wie nachhaltig abschreckend jener Aufstieg auf mich gewirkt hatte, und dass ich bis heute meinem Vorsatz der Bergabstinenz treu geblieben bin. Nebenbei bemerkt, hat sich an der Neigung zu Bronchialinfekten nichts geändert. Wenigstens ist es mir gelungen, mich von der pauschalen Antibiotikatherapie zu befreien. Allerdings braucht der Organismus deutlich länger, bis die Krankheit ausgestanden ist.
Theo schwärmt von den Alpen, wie abenteuerlich eine Wandertour sei. Mit Rucksack unterwegs sein, ohne ins Tal abzusteigen, für ihn und seine Familie das höchste Glück. Er beschreibt die Standorte der Berghütten, die Schönheit der Natur, die Matratzenlager, die Gemütlichkeit der Hüttenabende. Ich kann dir nur raten, probiere es, sagt er, es wird dir gefallen.
Warum höre ich ihm überhaupt zu? Weil ich ein grundsätzlich neugieriger Mensch bin und Geschichten mag, die so mitreißend erzählt werden wie diese. Soll ich es tatsächlich versuchen, eine Wandertour von Hütte zu Hütte wagen, stundenlang in einer Höhe laufen, die ich noch nie betreten habe, meinen begründeten Vorsatz über den Haufen werfen? Dieser Theo! Hat mir ein Lasso mit vielversprechenden Bildern um den Hals gelegt, nicht festgezurrt, aber fest genug, um es nicht abstreifen zu können.
Bemerkenswert, wie gründlich ich die Wahrscheinlichkeit verdränge, dass mich dieses Unternehmen konstitutionell überfordern wird.
Ich denke an die wehmütigen Abschiede von den Landschaften vergangener Urlaubsreisen. Sie zu erreichen war leicht: mit dem guten alten VW-Bus, der Bahn, dem Schiff, dem Flugzeug. Eine Bergtour würde etwas ganz anderes sein: eine Herausforderung, ein Experiment… eine Illusion?
Theos Lockruf hat mich erreicht. Vielleicht bin ich für das Bergwandern doch nicht ganz ungeeignet? Immerhin hatte ich mich als Kind bevorzugt im Freien aufgehalten, Strauchdickichte, Kratzer, Dreck und unbekannte Ecken nicht gescheut. Auch als Erwachsene bin ich sehr gern in der Natur. Das allerdings ist schon alles, was ich auf der Haben-Seite zu verzeichnen habe.
Auf der Soll-Seite sieht es ganz anders aus, wie umfangreich, ist mir nicht im Geringsten klar. Mein Fitnesstraining besteht aus dem Gerenne zwischen drei Kindern, Schule, Kindergarten, Minijob, Haus, Garten, Supermarkt… und so weiter. Ich habe keine Ahnung, wie der Rucksack zu packen ist, was ich unterwegs benötige, weiß nichts zu den Themen Höhenluft, Sonnenintensität im Hochgebirge, Baumgrenzen, alpine Gefahren, Notsignale; natürlich auch nichts über Krafteinteilung, Kopfschutz, Wanderstöcke, Orientierung, Wanderkarten.
Ich weiß gar nichts. Mein Mut ist nichts weiter als Unbedarftheit. Von Naivität will ich nicht sprechen, ich bilde mir ja nicht ein, dass das, was mich erwartet, einfach sein wird.
Theo hat etwas in Gang gesetzt und ich bin bereit, dem A das B folgen zu lassen und jeden weiteren Buchstaben auch, gegebenenfalls meine negative Haltung zu den Bergen aufzugeben.
Wie gravierend die bevorstehende Erfahrung Einfluss auf mein künftiges Leben nehmen wird, ahne ich nicht im Geringsten.
Ein paar Monate später wird es ernst, wir reisen ins Vorarlberger Montafon. An einem heißen Sommertag entsteigen wir frühmorgens beim Tschaggunser Berggasthof Grabs dem gleichnamigen Sessellift und beginnen den Aufstieg. Vor mir läuft wieder ein männlicher Begleiter, unwissend und unerfahren wie ich, jedoch körperlich kräftiger und fitter, mit Atemwegen, die keine Dauerkrankengeschichten kennen.
Der erste Aufstiegsabschnitt ist steil und nicht leichter als der in Sepps Begleitung, mit dem Unterschied, dass ich es diesmal selbst so gewollt habe. Ich schnaufe, ringe um Luft, Kopfschmerzen bahnen sich an. Alle Augenblicke stehenbleibend, kämpfe ich mich hinter meinem Begleiter den Berghang hoch, schwer an dem dünnwandigen, hin und her schwankenden Rucksack tragend, dessen schlecht gepolsterte Gurte in die Schultern schneiden und der während des Packens keine Waage gesehen, somit keine Gewichtskontrolle erlebt hat. Worauf habe ich mich nur eingelassen? Dieser Theo mit den schönmalenden Worten! Warum kehre ich nicht einfach um? Weil ich nicht allein unterwegs bin und sofortiges Aufgeben noch nie mein Ding gewesen ist.
Und dann kommt er, der Moment, der mich mein Leben lang mit Dankbarkeit erfüllen wird.
Der letzte größere Anstieg liegt zurück, Latschenkiefern haben die Bäume abgelöst, die Landschaft fängt sich hügelig zu weiten an. Die Gipfelaufbauten der umstehenden Berge sind viel näher gerückt, nun erkennbar die Felsstruktur. Ein neuer, nie erlebter Wind schlägt mir entgegen. Der Pfad, ein dünnes, sich windendes Band, bleibt so lange sichtbar, bis er hinter einer Erhebung verschwindet. Ich spüre seine Anziehungskraft, als sei er ein lebendiges Wesen, das spricht und mich zum Weitergehen verleiten will: Komm, Stadtkind, sieh, wohin ich dich führen werde…
In meiner Brust tut es einen Freudensatz, einen Sprung der Erkenntnis. Mein Herz verliebt sich mit überraschender Heftigkeit.
Von der ungewohnten Anstrengung pocht es in den Ohren wie ein Trommelwirbel vor dem Sprung eines Zirkusartisten. Staunend stehe ich, ehrfürchtig im Angesicht dieser ursprünglichen Welt, berührt und bezaubert von den leuchtend bunten Wildblumen. Dicht an der Erde trotzen sie dem Wind, der an ihnen zerrt – Blumen eines verheißungsvollen Paradieses. Allein der Pfad ist Menschenwerk, nicht so die weite, endlos scheinende Bergnatur, die an diesem Ort ihrem eigenen Willen folgt.
Meine Gefühle und Gedanken überschlagen sich. Ist dies der Moment, an dem sich eine meiner kindlichen Träumereien über dem Schulatlas erfüllt? Ich bin mir bewusst, dass das, was ich hier sehe, nur denen vorbehalten ist, die sich zu Fuß aufmachen, und dass dieses überwältigende Gefühl der Lohn für den vergossenen Schweiß ist. Während sich das Hämmern in der Brust beruhigt, ahne ich, dass mich diese Welt von nun an rufen wird, egal, wo ich mich aufhalte, egal, wie gesund und fit ich bin. Mein Schicksal ist sozusagen besiegelt. Was kümmert es das in Begeisterung entbrannte Herz, dass ich in Gelsenkirchen geboren, in Nordrhein-Westfalen zu Hause bin und vom Grabser Sessellift unerbittliche 800 Kilometer entfernt lebe?